Depression und Dysthymie – Gefahren, Irrwege und Hilfen

„Double Depression“: Eine Bloggerin erklärt aus persönlicher Erfahrung, was bei Depression und Dysthymie wirklich hilft

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Madeline

Was ist eigentlich eine Dysthymie und wo liegt der Unter­schied zu einer Depression oder einer depressiven Ver­stimmung? Bei Madeline wurde eine rezidi­vierende depressive Störung und Dysthymie festgestellt. Sie schreibt aus Er­fahrung auf ihrem Blog „Learning to live“ darüber. Lesen Sie heute auf dem MyTherapy-Blog die Innen­perspektive: Madeline teilt ihre Gedan­ken zum Thema Depression und zu ihrer Diagnose mit Ihnen.


Wir haben Madelines Blog in den Top Blogs 2020 vorgestellt:

Leben mit Depression: Diese 13 Blogger schreiben, was ihnen durch den Kopf geht


Jeden Morgen, wenn ich auf­wache, atme ich so tief ein, wie es nur geht. Ich muss mich verge­wissern, dass noch Luft hindurchpasst durch meine Atemwege, an dem riesigen Kloß in meinem Hals vorbei, hin zu den kleinen Alveolen der Lunge. Inner­halb der letzten Jahre habe ich viel Therapie gehabt, verschiedene Medika­mente genommen und einiges über mich und meine Handlungs­möglichkeiten gelernt. Eine der wichtigsten Erkennt­nisse war wohl, dass mich dieses Kloßgefühl, dieses Zuschnüren der Kehle, nicht um­bringen wird. Auch, wenn es sich immer mal wieder danach anfühlt.

Aller Anfang ist schwer: Der erste Schritt in die neue Richtung

Inzwischen sind mehr als fünf Jahre vergangen, seitdem ich mich das erste Mal in ärztliche Behand­lung begeben habe, weil ich überfor­dert war mit dem Leben und diesen Anfor­derungen, die mir so unsagbar groß erschienen. Ich war sinn­bildlich an der Spitze des Mount Everest angekom­men, nur spiegel­verkehrt, auf dem dunklen Klon, der nach unten ragte und auf dem die Luft ziemlich dünn wurde. Schon während meiner frühen Jugend merkte ich, dass etwas mit mir nicht stimmte, doch Zeit, so heißt es ja, heile alle Wunden. Also wartete ich jahre­lang auf diese wunder­same Besserung, bis schließlich nichts mehr ging und ich mich 2015 in einer psychia­trischen Tages­klinik wiederfand. Der Ort, an dem mein Leben in eine völlig andere Rich­tung gehen sollte.

Die Diagnose damals lautete: Schwere depressive Episode. Ich war verzwei­felt, lebensmüde und nicht mehr in der Lage, die tägliche Last zu tragen, die so schwer auf meinen Schultern lag. In dieser Klinik wurde mir ein neuer Weg geebnet. Ich begann zu verstehen, was mit mir passierte und lernte, die Vergan­genheit und die Gegen­wart zu akzeptieren, ohne zu verges­sen, dass ich immer noch Einfluss auf die Zukunft hatte. Man zeigte mir Strategien, mit denen es mir besser gehen konnte, und Wege, um gegen mein psy­chisches Leid anzukämpfen.

In den Jahren danach machte ich Fort­schritte, habe gelernt, erlebt und verstanden. Ich war hoffnungs­los und voller Hoffnung, entdeckte neue Perspek­tiven und verlor einige wieder, ich fand Worte und schwieg mich durch die Weltge­schichte. Ich war in Kliniken und machte ambu­lante Therapie, hatte Rück­schläge, aber auch gute Momente, ich schloss neue Freund­schaften und beendete ein paar alte. Es hatte sich viel verändert – und doch sind einige Dinge so furcht­bar gleich geblieben, dass es mir Angst machte.

Unerfüllte Erwartungen, Frustration...

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe erkrankt jeder fünfte Bundes­bürger mindestens einmal in seinem Leben an einer Depres­sion. Das ist eine Zahl, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss – gerade in Anbetracht der noch immer weit ver­breiteten Sprach­losigkeit, wenn es um den gesell­schaftlichen und privaten Diskurs von psych­ischen Erkrankungen geht. Und doch hat sich viel getan: Im Dschungel des Inter­nets findet man Unmengen infor­mativer Artikeln, Hilfestel­lungen und Berichte von medizin­ischem Fachper­sonal und Betroffenen selbst. Und auch gibt es inzwischen unzäh­lige Ratgeber für den Umgang mit einer Erkran­kung, die sich in ihrer ganzen Indivi­dualität so schwer greifen lässt.

Madeline

So positiv diese Entwick­lung auch ist, so sehr wurde sie für mich auch zu einer Gefahr. Je mehr Zeit verging und je mehr ich über mich und psychische Erkrankungen im Allge­meinen lernte, desto verunsicherter wurde ich durch den Weg, den ich gegangen war und der Situation, in der ich mich noch immer befand; denn all die Dinge, die ich in der Therapie lernte, die ich mir mit Fachbüchern, Artikeln und Beiträgen von Betrof­fenen aneignete, ermöglichten mir zwar einen besseren Umgang mit den Symp­tomen der Depression, doch an meinen Gefühlen änderten sich nur Nuancen. Dieser innere Schmerz krallte sich wie eine Zecke an mir fest. Er war mal im Vorder­grund, mal im Hinter­grund, doch er war immer da.

"Ich fragte mich, ob 'Episode' nur ein Synonym für 'ganzes Leben' sei."

Das reichte mir nicht. Ich fragte mich, ob „Episode“ nur ein Synonym für „ganzes Leben“ sei oder ob ich einfach irgend­etwas nicht richtig machte. Während Mitpa­tienten, zu denen ich noch in Kontakt stand, wieder arbei­ten gingen, versuchte ich mich mit aller Kraft, thera­peutischer Unterstützung und erlernten Hilfs­strategien lebens­tauglich zu machen. Mir einen Alltag aufzu­bauen, an dem ich mehrere Tage hinter­einander nicht verzweifelte. Ich brauchte ganz dringend eine Pause von dieser Schwere, die sich ganz tief in mir mani­festiert hatte. Stattdessen fühlte es sich an, als hätte ich nur Einfluss auf die Umlauf­bahn, nicht aber auf den Kern. Als hätte ich ein wacke­liges Gerüst gebaut, doch das Fundament – der innere Schmerz – blieb derselbe.

Das Schlimmste daran war, dass ich es nicht verstand. Ich las verschie­dene Geschichten über individuelle Erfolge im Kampf gegen die Depression, doch jeder Mut­macher erhöhte den Grad meiner Verzwei­flung. Bis ich mich fragte, ob es an der Zeit war, die Hoffnungs­losigkeit nicht als Symptom einer Krankheit, sondern als realis­tische Zukunft­saussicht zu betrachten. Bevor ich mich jedoch in diesen Gedanken ver­steifen konnte, entschied ich mich zu meinem Glück, ein zweites Mal in die Tages­klinik zu gehen, die mir einst das schenkte, was mir gerade ziemlich abhan­den gekommen war: Hoffnung.

Double Depression – Ein Zusammenspiel aus Dysthymie und depressiver Episode

In der Tagesklinik diagnos­tizierte man mir zusätzlich eine Dysthymie. Die Kombi­nation aus depressiver Episode und Dysthymie nennt man auch „Double Depression“.

Als „Double Depression“ (zu deutsch: Doppeldepression) versteht man das gleich­zeitige Auftreten zwei verschie­dener Arten der Depression, nämlich einer depres­siven Episode und der Dysthymie. Die Dysthymie ist eine langan­haltende depressive Verstim­mung und wird häufig als chron­ische Depression bezeichnet. Sie zeigt im Gegen­satz zur depres­siven Episode einen sympto­matisch milderen Verlauf, der jedoch mehrere Jahre andauert.

Die Diagnose ließ mich in der ersten Reak­tion zunächst einmal aufatmen, denn endlich konnte ich verstehen, warum mein Weg von den Erwar­tungen, die ich zuvor hatte, so sehr abgewichen ist. Ich konnte nach­vollziehen, warum ich den Anfang und das Ende der depressiven Episode so schlecht bestim­men konnte und ich verstand, dass der tägliche Kloß im Hals etwas ist, für das es eine Er­klärung, eine Begriff­lichkeit gibt. Denn meine größte Angst war: Wenn man nicht verstand, was ich selbst nicht begriff, wie sollte man mir dann helfen können? Verzwei­flung kann wirklich groß werden, wenn man das Gefühl hat, einem kann nicht geholfen werden.

Einstieg in die graue Welt – die Gefahren der Dysthymie

Die Dysthymie birgt eine besondere Gefahr: Sie führt die Betrof­fenen oftmals auf sanftere Art und Weise in eine Welt der Freud­losigkeit, Erschöpfung und Antriebs­losigkeit. Sie kommt nicht so radikal daher wie eine depressive Episode, sondern ebnet oftmals unbemerkt den Weg dorthin und erzeugt bei vielen eine Art Gewöhnungs­effekt, der das eigene Warn­system überlistet. Viele Menschen, die ich im Zuge der Aufklärungs­arbeit kennenlernte, beschrieben mir, dass die dauerhafte depres­sive Verstimmung ihnen Energie raubt, dass sie unter Schlaf­störungen, Müdigkeit und Kopf­schmerzen leiden und dass sie ihre Freude an den Dingen des Alltags verloren haben. Doch das, was sich da so einge­schlichen hat, war in vielen Fällen für die Betrof­fenen noch kein Grund, härtere Geschütze aufzu­fahren und sich Hilfe von außen zu holen. Anstatt dessen ist dieser Grau­schleier ein schon fast zuge­höriger Teil ihres Lebens geworden, mit dem sie noch „funktionieren“ konnten. Und so haben sich einige, so wie auch ich mich, irgend­wann mitten in einer schweren depressiven Episode wieder­gefunden, die eine bereits mani­festierte depressive Verstimmung überlagert hat.

Die 5 wichtigsten Schritte, sich so gut es geht zu schützen

Rückblickend ist mir sehr bewusst ge­worden, auf was es ankommt, wenn man sich mög­lichst gut schützen und helfen möchte:

1. Aufmerksam sein

Der wichtigste erste Schritt, der sicherlich auch einer der schwierigsten ist: Beobachten und bewusst wahrnehmen. Es gibt immer mal wieder Phasen in unserem Leben, in denen die Trauer überwiegt. Solche Zeiten sind in einem bestimm­ten Rahmen etwas lebenszu­gehöriges. Sobald diese Phasen jedoch unge­wöhnlich lange anhalten, sehr intensiv werden oder unseren Alltag auf längere Sicht massiv beeinflussen, ist es an der Zeit, einen ehr­lichen Blick auf unsere mentale Gesund­heit zu werfen, bevor sich etwas manifes­tiert, das mit der Zeit viel Schaden anrichten kann.

2. Verstehen

Das Verste­hen beinhaltet auf der einen Seite, die Krank­heit einzusehen. Nur, wer selbst erkennt, dass die Symp­tome keinen Anspruch auf Lebens­zugehörigkeit besitzen, gibt sich auch selbst die Mög­lichkeit, Hilfen und Auswe­ge sehen zu können.

Auf der anderen Seite ist es immer richtig und wichtig, möglichst umfang­reich informiert zu sein und zu verstehen, was überhaupt mit einem passiert. Ich habe beispiels­weise besonders darunter gelitten, nicht ver­standen zu haben, warum ich nur in Tippel­schritten vorankam. Seitdem ich weiß, was dahinter­steckt, kann ich die Gegen­wart leichter akzep­tieren und die Zukunft besser beeinflussen.

3. Akzeptieren

In einem schlechten Moment habe ich in der Therapie einmal unter Tränen gesagt: „Ich will das aber nicht!“ Das Einzige, was mir das gebracht hat, war noch mehr Ver­zweiflung, Frus­tration und überhaupt kein Handlungs­spielraum. Viele Men­schen glauben, dass Akzeptanz eine Art der Resig­nation oder der Aufgabe ist, doch das Gegen­teil ist der Fall: Erst das Akzep­tieren des Status Quo bringt Potential zur Verän­derung. Als ich gelernt habe, mir zu sagen, dass es jetzt gerade so ist, konnten wir viel aktiver und pro­duktiver Strategien entwickeln, um den Zu­stand zu verändern.

Im Übrigen klingt Akzeptieren wesent­lich leichter, als es ist. Viele Therapie­konzepte beinhalten deshalb auch das Thema „radikale Akzeptanz“. Es darf aber immer auch Momente geben, in denen man sich kurz und mit Händen und Füßen wehrt, solange man danach wieder zur Akzeptanz und damit zur Handlungs­fähigkeit zurückfindet.

4. Handeln

Was man nicht versteht, lässt sich nur schlecht akzep­tieren. Was man nicht akzeptiert, lässt sich auch kaum ändern. Und was sich nicht verändert, bleibt eben auch so, wie es ist. Das Para­doxon einer psychischen Erkran­kung: was in der Therapie am wichtig­sten ist, fällt Betroffenen oftmals leider auch am Aller­schwersten – und zwar aktiv zu werden und nicht der Passivität und der Lethargie zu verfallen. Aktivität ist hier oft eine der größten Hürden, das Über­winden dieser aber ein wichtiger Teil in Richtung Bes­serung.

5. Geduld und Verständnis haben

Es ist sehr unwahr­scheinlich, dass es nicht auch mal zu Rückschlä­gen oder Stillstand kommt. Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade psychische Erkran­kungen hoch-individuell sind. Es ist also durchaus erlaubt, auch mal rücksicht­svoll mit sich selbst umzugehen und Geduld aufzubringen. Eigene Erwar­tungen an die Realität anzupassen. Insbe­sondere in unserer schnell­lebigen, digitalisierten und leistungs­orientierten Welt, in der es viel um Vergleiche geht, ist es kein schönes Gefühl, die eigenen Erwartungen nicht erfüllen zu können oder von dem ursprüng­lichen Weg abzuweichen. Ein bewusster Umgang mit den eigenen Gefühlen sowie Verständnis und Nachsicht für seine Situation aufzu­bringen ist wichtig, um sich nicht selbst im Weg zu stehen und Hürden nicht dort aufzustellen, wo keine sein müssen.

Letzten Endes gibt es kein Patentrezept. Es gibt nicht den einen Weg, der richtig ist und das eine Tempo, das funktioniert. Und auch gibt es keine Garantie dafür, wann und ob man wieder richtig frei durch­atmen kann. Aber es gibt immer und überall die Möglich­keit, sich jene Voraus­setzungen zu schaffen, um mit etwas so gut es eben geht fertig zu werden. Diese Chance ist immer da – egal, an welchem Punkt man sich auch befindet.


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